Mittwoch, 18. Juli 2012

Die Freude der ich-Stärkung

Ein Zauberwort spätestens seit der "Aufklärung" lautet: »Individualität«. Das Wort bedeutet aus dem Lateinischen: »nicht Teilbar«, ist also der Begriff für eine klar erkennbare Einheit, Einzelheit.

Jetzt ist aber längst bekannt, dass das Mensch nicht unteilbar ist, sondern sehr wohl in Einzelteile zerlegbar ist, und damit auch in andere "Individuen" einbaubar ist.
Dass also "EinzelTeile" eines Menschen in ein anderes Mensch einbringbar sind und dort auch »funktionieren« können. Herzen werden inzwischen genauso selbstverständlich "verpflanzt" (auch so eine sprachliche Verirrung, welche wir deutschsprachigen Menschen einfach so hinnehmen, aber vielleicht steckt darin sogar so etwas wie intuitive Wahrheit drinn, denn schliesslich sind Wir (Säuge-) Tiere sehr wohl mit den Pflanzen verwandt), wie es mit Nieren, Lebern und bald auch Lungen und Haut passiert.

Das Mensch ist zerlegbar, ist Innen austauschbar. Es ist nur noch eine Frage der RaumZeit, bis auch das erste Gehirn gereinigt und gesäubert - Innen wie Aussen -, wird und dann von eines Mensch zu eines anderes Menschen "verpflanzt" wird, um dort sein kontrollierendes, steuerndes, lernendes und bewusst-seins-förderndes Werk zu tun.

Was bleibt also vom Individuum?
Ein Hautsack mit vielgestaltem, viel-teiligem Inhalt.

Die Individualität beschreibt auch den Prozess der Vereinzelung, der Heraus-Lösung des Einzeln-Es aus der weitgehenden Bestimmung durch die MassenBewegungen.
Die Masse Mensch ist in Bewegung und Stimmung weitgehend Gleich; die Individualisierung bezeichnet also vielleicht den Vorgang, dass immer mehr Einzeln-Es diese Bewegung und Stimmung der Masse Mensch in Frage stellen und das blinde Folgen verweigern.

Es sind inzwischen schon Hunderttausende, aber in einer Masse von Milliarden erreichen diese Menschen noch nicht einmal PromilleGrösse. Ausserdem sind bereits Millionen andere Menschen in einem Bereich DaZwischen, also zwischen der fast völligen Kontrolle des Fühlens und Denkens in / von der Masse und ein wenig AbSonderung - einem kleinen Defekt innerhalb der Masse.

Defekt?
Ja, normal ist das noch nicht.
Normal ist ein folgsames Masse-Teilchen, welches im Individuum der Masse - auch eine Masse / Gruppe ist gegenüber anderer Massen / Gruppen ein "Individuum" - mitschwimmt; aber wie Wir inzwischen wissen, ist ja NICHTS, aber auch gar NICHTS, was lebt, was also aus Materie ist «unteilbar».

Und laut dem zweiten Hauptsatz der Thermodynamik (Entropie), ist es das Schicksal allen DaSein, aus der Ordnung in einer Masse oder auch der Ordnung in einer festeren Haut eines »Individuums«, hinauszuwandern, in die WEITEN des SEIN.

Das Streben des DaSein ist eins nach Herauslösung aus Strukturen, aus festgefügten Ordnungen, in eine Distanz voneinander. Der 2. Hauptsatz beweist einen aller Natur innewohnenden Faktor der (ent-setz-lichen?) Vereinzelung von Vereinzelbarem, das bedeutet: 
Alles was Eins ist, Einzig ist, was Eins sein kann, wird irgendwann auch Einzeln sein, also aus einer Ordnung oder einer Struktur herausgelöst sein und in Distanz zu anderem Einzelnen DaSein.

Die ängstlichen Menschen, noch geprägt von der Enge und Gewöhnung in der Masse, verworten diesen Prozess als Weg ins Chaos, weil Chaos Angst macht, machen soll.

Noch ist der Prozess der Befreiung aus der Ein-Ordnung also einer der Angst. Entsetzlich? Aber bis Wir und dieses materielle Universum, in seine Einzel-Teile zerlegt ist und ALLES EIN[zeln]es in Distanz verteilt ist, werden noch Billionen und noch einmal Billionen von Sonnenumkreisungen vergehen.
Also was sollte Uns das bereits Jetzt ängstigen?

Kurzes Atemholen.

Das obige diente eigentlich nur dazu, Ihnen eine Begriffs-Änderung schmackhaft zu machen;-)

Den Begriff der Individualität finde Oliver-August Lützenich falsch gewählt für das, was Wir seit Anbeginn tun, seit es auch uns Menschen, als Bewusst-Seins gesättigte erLebewesen gibt: Wir stärken die Einzelheit, die Jed-Es von Uns (Jed-Es von Uns! = Die / Eine Einzelheit in das Masse) ist.

Diesen Prozess möchte *ich als ich-Stärkung bezeichnen.

Die Wichtigkeit der Masse, der Familie, der Gruppe oder Gesellschaft, in die das Einzeln-Es hineingezeugt und eingebettet ist, nimmt ab, das Gewicht für die persönlichen Handlungen und Entscheidungen von der Masse wird langsam abgetragen; und das einzelne Selbst übernimmt das Selbst[Eigen-]-Gewicht ins jeweilige Selbst. Diese Selbst[ich]-Stärkung geht (selbst-verständlich) mit einer Gruppen-Schwächung einher, aber das ist ja klar.

Zur Bestätigung dieser Beobachtung und Einschätzung, nutze *ich, wie fast immer, die Artikel und Befunde, aus den @uch Ihnen allen zugänglichen Medien.

Eine Debatte, die zur aktuellen (2012) RaumZeit-Spanne stattfindet, ist die der Kinderrechte, ausgelöst durch das Kölner Beschneidungsurteil. Wie weit geht die Fremd[Selbst]-Bestimmung eines einzelnes Selbst, durch dieJenig-Es, die -Es mit-gezeugt haben, oder durch die Gemeinschaft in denen die Erzeug-Es leben?

Die Tendenz weist darauf hin, dass JEDES einzelnes Selbst immer mehr Rechte zugestanden bekommt - übernehmen wird -, dass also weder die Gesellschaft, noch die Eltern, das Mensch, das Sie mit-gezeugt haben, in eine von Ihnen bestimmte und vorgegebene Richtung entwickeln, "erziehen" oder gar zwingen dürfen.

Das setzt aber ebenso unabhängige, selbstentscheidende und gutversorgte Eltern / Verantwortliche und eine diesem entsprechend gestaltete Gesellschaft voraus; und so weit sind Wir längst noch nicht.
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Sommerl-*ich vor Schloss. 
Berlin-Charlottenburg
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Hier also der erste Artikel, der diese Tendenz aufgreift, aber sie noch nicht so recht wahrhaben möchte:

Aus der Süddeutschen Zeitung, vom 17.07.2012, von Johan Schloemann.

Titel: Immer mehr Rechte für immer weniger Kinder
Untertitel: In der Beschneidungsdebatte steht die Erziehungsfreiheit gegen das Wohl des Kindes. Doch auch dessen Religionsfreiheit steht auf dem Spiel. Aber was ist das eigentlich, "Religionsfreiheit des Kindes", zum Beispiel bei einem acht Tage alten Säugling? 

Die Frage, ob die religiöse Beschneidung von männlichen Juden und Muslimen unter Strafe gestellt wird, hat die Gemüter erhitzt, und jetzt soll sie vom Gesetzgeber geregelt werden. Damit ist der Fall nicht erledigt. Im Gegenteil: Das Thema ist in der Arena gesellschaftspolitischer Konflikte angekommen. Eine konkrete gesetzliche Regelung, die es bisher nicht gab, schließt nicht aus, dass die Sache irgendwann vor dem Bundesverfassungsgericht landet.

Grundrechte gelten für alle. In der Debatte um Beschneidungen aber stößt das Recht an seine Grenzen. Es geht mehr vom Einzelnen und seinen abstrakten Rechten aus. Dabei ist jedes Kleinkind doch auch einer Gruppe, einer Religionsgemeinschaft zugehörig.
In der Beschneidungs-Debatte wird nicht bloß über den Ausgleich zwischen zwei Grundrechten gestritten: Hier das Sorge- und Erziehungsrecht der Eltern - wozu auch die religiöse Erziehungsfreiheit gehört, denn die Verfassung garantiert "ungestörte Religionsausübung" -, dort das Recht des Kindes auf körperliche Unversehrtheit, in Verbindung mit der Orientierung am "Kindeswohl" laut Bürgerlichem Gesetzbuch. Nein, hinzu kommt in der Diskussion auch noch die "Religionsfreiheit des Kindes". Aber was ist das eigentlich, "Religionsfreiheit des Kindes", zum Beispiel bei einem acht Tage alten Säugling?

Die juristische Dogmatik unterstellt zunächst, dass die Grundrechte für alle gelten, auch für Kinder vom ersten Lebenstag an. Das steht in guter Tradition der Prinzipien der Aufklärung, wonach jeder Mensch frei und gleich geboren ist. Und so hat auch für die deutsche Verfassung jedes Kind eine eigene Menschenwürde und ein eigenes Recht auf Entfaltung der Persönlichkeit - Rechte, die bekanntlich sogar, wenn es um Abtreibung geht, auf das ungeborene Leben ausgeweitet werden. Entsprechend ist die Erziehungsfreiheit der Eltern auch keine absolute Willkürherrschaft über das Kind, sondern eine "anvertraute treuhänderische Freiheit", wie es das Bundesverfassungsgericht einmal ausgedrückt hat.
Auf Lenkung angewiesen

Nun weiß jeder, dass ein Säugling oder ein 5-jähriges Kind sein Freiheitsrecht noch nicht selbst ausüben kann. Das Kind ist auf Fürsorge und Lenkung angewiesen; es nur auf seine Freiheit zu verweisen und sonst nichts zu tun, wäre ein Verbrechen, denn das Kind würde so ja nicht der "Entfaltung seiner Persönlichkeit" überlassen, die die Verfassung schützt, sondern in seiner Hilflosigkeit gerade daran gehindert.

Also ernähren und erziehen die Eltern ihr Kind. Und sie tun dies, nicht nur im Bereich der Religion, mit irreversiblen oder sehr nachhaltigen Wirkungen auf das Leben des Kindes: Sie bestimmen die sprachliche und kulturelle Prägung. Sie haben massiven Einfluss auf die Bildungslaufbahn und den Seelenhaushalt. Sie treffen Entscheidungen über Gesundheit und Ernährung. Die einen Eltern geben Tabletten gegen Vitamin-D-Mangel, die anderen nicht. Die einen sind Impfgegner und verweigern die ärztlich empfohlenen Impfungen des Kindes, die anderen nicht. Die einen fahren Auto, die anderen nicht. Die einen lassen ihr Kind taufen, die anderen nicht. Die einen lassen ihr Kind an die Hölle glauben, was möglicherweise den Umgang mit Schuldgefühlen ein Leben lang beeinflusst, die anderen nicht.

In all das mischt sich der liberale Staat nicht ein, sofern nicht eine eindeutige Misshandlung, ein eindeutiger Missbrauch des Erziehungsrechts gegeben ist. Es spricht viel dafür, die religiöse Beschneidung, wie inzwischen vielfach erörtert, nicht als einen solchen Missbrauch zu werten. Jedenfalls kann die Mehrheitsgesellschaft unterhalb der Schwelle der eindeutigen Misshandlung vielleicht mit Argumenten - etwa in der Gesundheitsfürsorge oder durch den Unterricht in der Schule -, aber kaum mit Verboten eingreifen. "Die Verrechtlichung stößt hier schnell an ihre Grenzen, soll das primär auf Liebe und Vertrauen - und nicht auf Rechte und Pflichten - gegründete familiäre Beziehungsverhältnis nicht zerstört werden", heißt es in der Studie "Die ethische Neutralität des Staates" von Stefan Huster (2002).

Aus einer engen, formalen Grundrechtsperspektive hingegen sind die genannten Entscheidungen der Eltern allesamt Eingriffe in das Selbstbestimmungsrecht des Kindes, in die Entfaltung der Persönlichkeit. Denkt man das zu Ende, dann kann etwa die Entscheidung der Eltern gegenüber einem 8-jährigen Kind: "Bei uns gibt es kein Nutella" als Eingriff in die Freiheitsrechte des Kindes gewertet werden - ebenso wie die Entscheidung, ihm jahrelang nichts anderes als Nutella zum Essen zu geben.

Klingt absurd? Ist es aber nicht, wenn man sich die jüngere Kinderrechts-Diskussion ansieht. So betont etwa die Studie "Die (zivil-)rechtliche Stellung der Minderjährigen und Heranwachsenden" des Erfurter Zivilrechtlers Heinz Peter Moritz (1989) das Selbstbestimmungsrecht der Kinder - und in dieser Studie liest man folgenden Satz, den man sich angesichts der pädagogischen Realität auf der Zunge zergehen lassen muss: "Nur in jenem Fall, in dem hinsichtlich einer konkreten Frage ein Selbstbestimmungsvermögen tatsächlich nicht gegeben ist, dessen Vorliegen zumindest aber zweifelhaft erscheint, kommt eine ersatzweise Entscheidung durch die Eltern in Betracht." Den Satz sollte man einrahmen und an die Kinderzimmertür heften!

Es geht nicht darum, die unter Juristen geführte Debatte über den Beginn der "Grundrechtsmündigkeit" lächerlich zu machen. Gewiss muss elterliche Fürsorge immer auch den Freiheitswillen der Minderjährigen berücksichtigen, und die Fähigkeit zur Autonomie, zur Ausübung von Rechten entwickelt sich natürlich im Laufe der Kindheits- und Jugendjahre Schritt für Schritt. Genau das erkennt ja die in der Weimarer Republik eingeführte Regelung der Religionsmündigkeit an, wonach man ab 14 Jahren frei über seine Bekenntniszugehörigkeit entscheiden darf.
Religiöse und kulturelle Traditionen

Eine extreme Fixierung auf die individuellen Rechte kleiner Kinder aber verkennt vollkommen, dass Kinder auch in Gemeinschaften, in religiöse und kulturelle Traditionszusammenhänge hineingeboren werden. Hier stößt auch das Recht an seine Grenzen, weil es - zu Recht - immer eher vom Einzelnen und seinen abstrakten Rechten ausgeht. Und so behandelt das Recht auch die Religionsfreiheit heute tendenziell als Recht von Einzelnen - während die positive Religionsfreiheit, also das Recht zur ungestörten Ausübung, aus der historischen Genese heraus ja gerade auch als Recht von Gruppen zu verstehen ist: von Kirchen, Konfessionen, Religionsgemeinschaften.

Von solchen Missverständnissen scheinen jene Juristen geleitet zu sein, die Beschneidungen bei Jungen als Straftat werten. Nach der Logik des zitierten Nutella-Grundrechtsdenkens könnte man Millionen von muslimischen Familien auch die Fastenzeit verbieten. Und es müsste auch die christliche Kindstaufe unter Druck geraten: Während man nämlich aus Sicht des neutralen Verfassungsstaates ein Bekenntnis selbstverständlich wechseln oder aufgeben kann, so gibt es nach kirchlichem Recht traditionell eigentlich keinen Austritt aus der Kirche: semel Christianus, semper Christianus, "einmal Christ, immer Christ". Allein die Tatsache, dass die Kirche das so sieht, macht die Taufe von Säuglingen zu einem einschneidenden, irreversiblen Ereignis, das auch den Ausgetretenen lebenslang herausfordern oder belasten kann. Soll man die Taufe darum verbieten? Nein, man kann bei kleinen Kindern, die in bestimmter Prägung aufwachsen, nach den Worten des Freiburger Staatsrechtlers Alexander Hollerbach nicht "die diffizile Spannungslage einseitig auf Kosten fundamentaler Freiheiten entspannen".

Das ist keineswegs ein Freibrief für die Religionen. Und es gibt ja wahrlich viel Missbrauch von Kindern, mit und ohne Religion. Da muss der Staat wachsam sein. Aber die jüngere Kinderrechtsdiskussion - immer formaler, immer weniger auf den kulturellen Kontext bedacht - könnte in den europäischen Ländern auf ein kurioses Ergebnis hinauslaufen: Immer mehr Rechte für immer weniger Kinder. Irgendwann liegen dann noch ein paar Säuglinge allein herum und erfreuen sich ihrer juristischen Freiheiten.
Ende SZ

Wie kann es überhaupt für ein aufgeklärtes Mensch einen Zweifel daran geben, dass ein Mensch KEIN Eigentum anderer Menschen ist, also auch nicht so mit Es verfahren werden darf?

Menschen ohne dessen / deren Einverständnis in eine Form zu pressen, in eine Nationalität, eine Religion, in eine Tradition, in einen Beruf[ung] u.s.w., oder sie danach zu beurteilen - meist abzuurteilen -, nach Herkunft, Religion, Farbe, Aussehen etc. ist ... Ja, was?

Eine Frechheit.
Oder eine veraltete Handlungsweise, oder eine Notwendigkeit, oder "nur" eine Ununmkehrbarkeit, weil ja keine andere Möglichkeit besteht, ein anderes Ich zu bewerten, als an solchen Zufällen (Geschlecht?, Herkunft, Traditionen, ...) und Äusserlichkeiten? (Warum habe *ich nach dem Geschlecht ein Fragezeichen gesetzt? Weil die Frage in mir lautet: Wie entscheidet das DaSein es, dass die Geschlechter einer Spezies annähernd 50:50 gezeugt werden? Was deutet auf ein Paar, auf eine Prä-Zygote und verursacht die Auswahl, so dass diese Gleich=Gewichtung innerhalb einer geschlechtlichen Spezies erhalten bleibt, denn das einzelne Paar entscheidet bisher noch stets erst hinterher, ob das Geschlecht ausgetragen wird oder nicht. Es gibt also einen wahrscheinlich genetischen Faktor, welcher darin entscheidet, dass innerhalb der Spezies die Geschlechter ausgeglichen bleiben, was den Zufall ausscheiden würde.
Heute [2015] weiss *ich, dass es einfach eine fast 50:50 Wahrscheinlichkeit zweier HauptMöglichkeiten der GeschlechtsWahl, im Prozess der Maiose und der darin ablaufenden Neukombination der elterlichen DNS ist.)

Für mich ist es einfach überholt. Wir hatten mal keine andere Wahl. Meist. Aber nun haben Wir eine.
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Georg Grosz, "Der Agitator", 1928
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Und ein weiterer Artikel, in dem diese Tendenz zur ich-Stärkung noch als Störung beschrieben wird - was es im Sinne der Masse ja auch ist -, die Autorin aber die Vorteile dieser Entwicklung bereits erahnt.

Noch ein persönlicher VorSatz: Verzeihen Sie Bitte, dass *ich das so beschreibe, und einen solch deutlichen Standpunkt zu den beiden Autoren einnehme, aber *ich bin nun mal anderer Meinung und möchte das durch diese Distanz auch bemerkbar machen, ohne dabei einen anderen als einen horizontalen / ebenen Standort zu den beiden anderen Autoren einzunehmen.

Hier also der zweite Artikel (die *mir wichtigen Sätze, habe ich unterstrichen):

Aus der Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, 15.07.12.
Von Katharina Teutsch

Titel: Narziss geht Baden
Untertitel: Wissenschaftler fordern, den Narzissmus aus der Liste der Persönlichkeitsstörungen zu streichen. Für die Medizin wäre das womöglich kein Verlust. Für die Kultur schon eher.

Hat der Mann, der den Narzissmus abschaffen will, womöglich selber ein Narzissmusproblem? Professor Doktor Peter Fiedler baut sich, sehr selbstbewusst, hinter dem Rednerpult auf, stellt das Mikrofon auf seine Sprechhöhe ein und ruckelt ein paarmal daran. „Bin ich einigermaßen gut zu verstehen?“, fragt er in den Saal. Die Antwort wartet er gar nicht ab: „Ich hör’ mich selber. Das ist schon mal wichtig!“

Es ging, beim Jahreskongress der Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie, Psychotherapie und Nervenheilkunde im vergangenen Herbst, um eine Reform der Klassifizierung von Persönlichkeitsstörungen. Die klinische Diagnostik kennt, je nach Auslegung, um die dreizehn Hauptstörungen (darunter die schizoide, die dissoziale oder die paranoide). Einige davon sollen nach dem Willen von Koryphäen wie Professor Fiedler in der für Mai 2013 geplanten fünften Auflage der psychotherapeutischen Klassifikationsbibel „Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders“ wegfallen. Der Narzissmus stand auf der Streichliste.

Wer wäre frei davon?

Aufgebrachte Analytiker, die ohne das Freudsche Mythentrio Ödipus, Narziss und Elektra nicht auskommen mochten, verhinderten die Abschaffung des Narzissmus in letzter Minute. Viele Verhaltenstherapeuten waren ihrerseits empört darüber. Sie bezweifeln sehr heftig, dass es das überhaupt gebe: die narzisstische Persönlichkeitsstörung.

Eine Welt ohne Narzissmus, das hört sich erst mal unglaublich an: Was wird denn da aus der Psychologie? Und was aus dem populärpsychologischen Small Talk? Wissenschaftliche Standardwerke behaupten doch seit den so hedonistischen wie hedonismuskritischen siebziger Jahren, dass unsere Gesellschaft immer narzisstischer werde: Heinz Kohut 1971 in seinem Buch „Narzissmus“, Christopher Lasch 1979 in „Das Zeitalter des Narzissmus“ und Richard Sennett 1983 in „Verfall und Ende des öffentlichen Lebens“. Keine Diagnose ist seither tiefer in unsere Alltagssprache eingesickert. Der und der sei narzisstisch, sagen wir, wenn er sich zu oft im Spiegel von Google und Facebook betrachtet. Die und die habe eine Profilneurose, wenn jemand notorisch zu dick aufträgt. Selbst die Depressiven bleiben nicht verschont; denn Ursache vieler Minderwertigkeitskomplexe, lehrt uns die Populärpsychologie, ist ein übersteigertes Selbstwertgefühl: Der Depressive leidet nicht nur an sich selbst, sondern auch daran, verkannt zu sein.

Könnten Sie mich bitte heilen?

Man könnte ewig weitere Belege dafür finden, dass der Narzisst kein verhaltensauffälliger Perverser, sondern eher der nette Typ von nebenan ist. Er ist zwar nicht normal, aber Mainstream. Nicht unschuldig daran ist sein anspielungsreicher Name. So gibt es den von Freud als Bezeichnung für eine sexuelle Perversion eingeführten Narzissmus, es gibt die mythische Figur Narziss, von Ovid über Oscar Wilde bis hin zu Hermann Hesse, und es gibt den umgangssprachlichen Narzissmus, der die eitle Schwester meint oder den selbstherrlichen Chef oder den manierierten Schuhverkäufer. Aber soll der Narzissmus, den es so singularisch offenbar nicht gibt und der doch immer noch so etwas wie übersteigerte Selbstliebe, Egoismus oder Autismus meint, als Zivilisationskrankheit wirklich abgeschafft werden?

Wir wollten dazu den Autor eines Standardwerks über Persönlichkeitsstörungen befragen - doch Professor Doktor Fiedler mochte uns nicht antworten. Interviews gebe er seit Jahren nicht mehr, einen kompetenten Kollegen wollte oder konnte er uns nicht nennen. Als wir per Mail noch einmal nachhakten, schickte er uns den Link zum Mitschnitt des eingangs erwähnten Vortrags. Man lernt darin tatsächlich eine Menge über Psychopathologien, gewinnt am Ende eines leidenschaftlichen Abgesangs auf den Narzissmus aber doch auch den Eindruck, dort arbeite jemand an der Abschaffung seiner eigenen Diagnose.

Vorsoziale Einheit von Individuum und Welt

Die narzisstische Persönlichkeitsstörung sei allein deshalb schwer zu diagnostizieren, erklärt Professor Fiedler schließlich in seinem Vortrag, weil sie häufig zusammen mit anderen Störungen auftrete. Ein Borderline-Patient ist eben oft auch ein Narzisst, was er selbst natürlich nicht so sehen würde, was auf das zweite diagnostische Problem verweist: Kein Mensch sucht einen Therapeuten auf, um sich von seinem Narzissmus heilen zu lassen.

Zwar gibt es die Unterscheidung zwischen einem offenen und einem verdeckten Narzissmus, doch führt die nirgendwohin, insofern der diagnostisch relevante offen operierende Narzisst nicht zur Therapie kommt. Sind doch alles Idioten, diese Therapeuten, sagt er sich stattdessen. Bereits Freuds Rede vom „gesunden“ Narzissmus beim Kind - natürlich gibt es auch das Gegenteil, den „kranken“ Narzissmus beim Erwachsenen - legt nahe, dass eitles, egoistisches oder, wertfrei formuliert, selbstbezügliches Verhalten in unserer Gesellschaft durchaus belohnt wird. Freud verbannte den erwachsenen Narzissmus zwar in die Klinik, legte aber gleichzeitig die Grundlage dafür, dass man von einer frühkindlichen Psyche ausgehen konnte, in der Narzissmus noch so etwas wie die vorsoziale Einheit von Individuum und Welt verhieß.

Die Sozialtheoretiker Alain Ehrenberg und Eva Illouz konnten darüber hinaus zeigen, dass der moderne Mensch ein durch und durch therapeutisch definiertes Subjekt ist. Ihm wird permanent nahegelegt, sich psychisch selbst zu verorten und im Zweifel, wie es oft heißt, „professionelle Hilfe“ in Anspruch zu nehmen.

Eine Chefsache

Verstärkt die Therapie also nur die zweifellos grassierende Selbstbezogenheit? Es ist ja kein ganz neues Argument, dass erst bestimmte therapeutische Angebote individuelle „Probleme“ zu gesellschaftlichen „Phänomenen“ normalisieren. Die Narzissmusfrage ist verwirrend und paradox: Obwohl es keine klaren Kriterien für dieses Krankheitsbild zu geben scheint, wird unendlich viel mit ihm herumgedoktert.

Peter Fiedler zitiert eine Studie, wonach zwar nur zwei von tausend Patienten diagnostisch dingfest gemacht werden können, sich jedoch in bis zu zwanzig Prozent der Therapeutenakten der Vermerk „narzisstische Störung“ findet. Und obwohl unsere Intuition uns sagt, dass die Gesellschaft ein Problem mit dem Ego hat, erteilt uns die Medizin damit eine Absage: Schließlich kann man nicht krank nennen, was woanders eine Tugend ist.

Eine niederländische Studie belegte erst kürzlich, dass narzisstisch veranlagte Persönlichkeiten häufiger zum Chef gewählt werden als andere, weil man ihnen Führungsstärke zuspricht. Gleichzeitig zeigte das Experiment, dass genau diese Chefs die Leistungen der Gruppe mindern, da sie Informationen, die für alle Teilnehmer relevant sind, für sich zurückbehalten. Merke: Narzisstische Verhaltensweisen werden in kapitalistischen Zusammenhängen zuverlässig belohnt, unterminieren aber die Arbeitsteilung.

Ist man, als Künstler, Narzisst?

Mit Blick auf die Finanzkrise fällt es schwer, dem neuesten klinischen Befund zu folgen, die Gesellschaft habe kein Narzissmusproblem. Der antinarzisstische Diskurs verhält sich also entweder selbst affirmativ zu seinem Gegenstand, oder er ist schlicht nicht geeignet, die soziale Komponente des Phänomens zu beschreiben. Man wird dann tatsächlich auch eher in der Ideengeschichte fündig.

Ovid beschreibt Narziss in seinen „Metamorphosen“ als einen sich erst in seinem Spiegelbild ver-, dann erkennenden, darüber zum Tode verzweifelten und sich schließlich in eine Blume verwandelnden Jüngling: Es ist eine mediale Urszene, in der einer erkennt, dass es unmöglich ist, sich selbst zu genügen, aber auch unmöglich, sich selbst zu erkennen.

Der mythische Narziss ist nicht zufällig immer wieder Gegenstand künstlerischer Selbstbefragung gewesen, denn er ist geradezu die Verkörperung der modernen Individualität. Das gesamte Mittelalter hindurch wurde die Geschichte von Narziss als Abschreckung gelesen. Ein Mensch, der zu viel von sich hielt, galt als unchristlich. Erst mit der Romantik wird die Figur positiv umgedeutet. Der sozial noch unkontaminierte Narziss wird mit dem Künstler schlechthin assoziiert, er steht für die Selbstbildung durch Kunst und Kultur und für künstlerische Freiheit. Der seinen Gedanken nachhängende, in Reflexion versunkene Künstler brachte August Wilhelm Schlegel im Umkehrschluss zu der Feststellung: „Dichter sind doch immer Narcisse.“ Denkt man an einige der erfolgreicheren deutschsprachigen Gegenwartsautoren, an die aktuelle Büchner-Preisträgerin Felicitas Hoppe oder an Daniel Kehlmann, bestätigt sich diese Einschätzung. Beide Autoren sind unablässig mit der Befragung ihres Autoren-Ichs beschäftigt und werden genau dafür von den Institutionen des Literaturbetriebs belohnt.

Streichle dich selbst!

Doch solche Selbstfindungsrituale sind weit entfernt von der utopischen Kraft, die einst in den Narziss-Mythos hineingedeutet wurde. Herbert Marcuse gefiel die Idee vom Selbstbefreier so gut, dass er den Mythos 1955 in seinem Buch „Eros und Civilisation“ auf die Kritische Theorie anwandte. Aus dem vom Leistungsprinzip verschonten Kunstbegriff der Frühromantik soll sich eine freiheitliche Alternative zum in der Moderne waltenden Realitätsprinzip gewinnen lassen. Mit dieser utopischen Mission betraut, war der Narzisst plötzlich kein perverser Selbststreichler mehr, sondern ein fröhlicher Hedonist, der uns daran erinnern soll, dass man durch intensives Nachdenken über sich selbst vielleicht doch noch zu einer gerechteren Gesellschaft kommen kann.

Vielleicht wäre es wieder einmal an der Zeit, an diese positive Lesart anzuknüpfen. Denn ob der Narzissmus nun eine Krankheit ist oder doch nur eine Metapher: Das Schlimmste, was ihm passieren kann, ist seine Trivialisierung zum neurotischen Mainstream. Dann taugt er weder als Gesellschaftsschreck noch als freiheitliche Utopie. Dann wäre er nur noch einer von uns. Ein harmloser Narzisst wie du und ich - Teil einer privatisierten Massenbewegung.
Ende FAS

Schlussätze: Die ich-Stärkung ist ein Prozess der AnGleichung der Wertigkeit im Mit-Einander. Die Fremdbestimmtheit oder Gruppenabhängigkeit, die Wir heute noch erleben und die Abschätzigkeit, welche die Hierarchisierung und die Ausgestaltung unserer Gesellschaften noch prägen, ist ein Auslaufmodell.
So empfinde und auch fühle *ich das.

Wir Menschen sind zu-einander GleichWertig, und sind dabei die FAST Selben Voraussetzungen. Mit nur ganz wenigen Ausnahmen ist JEDES menschliche Lebewesen fähig, hat also alle Ausstattung und Anlagen dazu, zu einem Beethoven, einem Einstein, einem William Turner oder einem Kafka heranzuwachsen. Sie setzen bitte wahlweise Ihre eigenen Vorbilder und Grössen ein.

Bliebe also die Frage:
Was braucht es für weitere Veränderungen und Voraussetzungen, um die Gesamtheit des Menschen solidarischer und Selbst-Verantwortlicher und dabei freier und stärker auszustatten, als es Uns bisher möglich war, und als Wir bisher Selbst zu träumen wagten?
Guten Tag.

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