Sonntag, 31. März 2013

Morgen ein Mensch?

Fakten: Europa ist etwa 7% der Menschen, generiert 15% der menschlichen Weltwirtschaft und bringt damit 50% der Sozial-, Kultur- und Kunst-Ausgaben der Menschheit auf. Kann das so bleiben, oder ist auch das - so wohlig es uns Europäer stimmen mag -, eine Schieflage, die die umliegende Menschheit in Armut, Unwissenheit und Entsetzen hält?

Dazu die Aussage eines Menschen, der fast das schlimmste erlitten hat, was Mensch erleiden kann:

«Abmarsch. Der Kapo gibt mit rauher Stimme den Schritt: Links, links, links; zuerst schmerzen einen die Beine, aber dann wird man nach und nach warm, und die Sehnen entspannen sich. Auch dieses Heute, das uns in der Frühe noch unüberwindlich und ewig erschien, haben wir Minute für Minute hinter uns gebracht; jetzt liegt es abgeschlossen da, wird augenblicklich vergessen, ist schon kein Tag mehr, hat bei keinem eine Spur von Erinnerung hinterlassen. Wir wissen, dass der morgige Tag geradeso sein wird wie der heutige: vielleicht regnet es ein bisschen mehr oder ein bisschen weniger, oder vielleicht müssen wir, statt Erde auszuheben, zum Karbid, um Ziegel abzuladen. Oder Morgen kann der Krieg zu Ende sein, oder wir können alle umgebracht oder in ein anderes Lager transportiert worden sein, oder es kann gar eine jener grossen Veränderungen eingetreten sein, die seit Bestehen des Lagers unentwegt als unmittelbar bevorstehend und sicher prophezeit werden. Doch wer vermöchte überhaupt ernstlich an Morgen denken?
Das Gedächtnis ist schon ein komisches Ding. Seitdem ich im Lager bin, gehen mir dauernd zwei Verse im Kopf herum, die ein Freund vor langer Zeit einmal geschrieben hat:

... bis eines Tags es keinen
Sinn mehr haben wird zu sagen: Morgen.

Hier ist das so. Wisst ihr, was im Lagerjargon "nie" heisst? "Morgen früh".»

Primo Levi, aus: Ist das ein Mensch?

und

Ist das ein Mensch?

Ihr, die ihr gesichert lebet
In behaglicher Wohnung
Ihr, die ihr abends beim Heimkehren
Warme Speise findet und vertraute Gesichter:
     Denket, ob dies ein Mann sei,
     Der schuftet im Schlamm,
     Der Frieden nicht kennt,
     Der kämpft um ein halbes Brot,
     Der stirbt auf ein Ja oder Nein.
     Denket, ob dies eine Frau sei,
     Die kein Haar mehr hat und keinen Namen,
     Die zu Erinnern keine Kraft mehr hat,
     Leer die Augen und kalt ihr Schoss,
     Wie im Winter die Kröte.
     Denket, dass solches gewesen.
Es sollen sein diese Worte in eurem Herzen.
Ihr sollt über sie sinnen, wenn ihr sitzet
In eurem Hause, wenn ihr geht auf eueren Wegen,
Wenn ihr euch niederlegt und wenn ihr aufsteht;
Ihr sollt sie einschärfen eueren Kindern.
     Oder eure Wohnstatt soll zerbrechen,
     Krankheit soll euch niederringen,
     Eure Kinder sollen das Antlitz von euch werden.

Von Primo Levi, 1919 - 1987

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Primo Levi, einer meiner Vorbilder
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